Auszüge aus Dorothee Höfert: "... und zehn ist keins."
in: "Ateliereinblicke 1998 / Andreas Schnelle
<wenn 6 ... 9 wäre>, Ausstellung 1998 im Badenwerk Karlsruhe



Die Lust am Verwirrspiel bestimmt auch den Charakter der zu großen Formaten zusammengesetzten Arbeiten von Andreas Schnelle.
Eine bestimmte Anzahl kleiner Quadrate bilden dabei ein Gesamtquadrat, dessen durcheinander gewürfelte Einzelteile kein Bildmotiv erkennen lassen. Unwillkürlich ist der Betrachter versucht, auf eigene Faust das durcheinander gewürfelte Bild wenigstens in Gedanken wieder zu ordnen, was nicht unmöglich erscheint, denn das offensichtliche Chaos folgt doch einer heimlichen Logik.

Dabei sind alle Elemente in ein mathematisches System eingebunden, das als "magisches Quadrat" die Struktur des Bildaufbaus vorgibt. Ein magisches Quadrat entsteht aus der gleichmäßigen Aufteilung einer Fläche in Felder mit jeweils unterschiedlichen Zahlen, die sowohl vertikal, horizontal als auch diagonal zusammengerechnet stets die gleiche Summe ergeben.

Die früheste Beschäftigung mit den verblüffenden Zahlenkombinationen des magischen Quadrates ist aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend in China überliefert, doch auch im europäischen Kulturkreis wurde das faszinierende Zahlensystem Gegenstand theologischer, meteorologischer, alchemistischer und künstlerischer Spekulationen. Den magischen Quadraten wurden neben religiös-symbolischer Bedeutung auch übersinnliche Kräfte zugeschrieben, das das "Normaleinstellung" auch zum Zaubermittel okkulter Praxis tauglich machten. Eine herausragende Rolle spielten die magischen Quadrate in der sog. "Ballade", d.h. der jüdischen Mystik aus dem 13. Jahrhundert, in denen sie unter anderem als geistiges Abbild kosmischer Ordnung galten.
Der spekulativen Anschauung zufolge war auch jedes Schicksal durch Tag und Stunde der Geburt in einem persönlichen magischen Quadrat aufgehoben, das bei kundiger Deutung einen Blick in die Zukunft ermöglichte. Das berühmteste magische Quadrat der europäischen Kunst findet sich auf Dürers Kupferstich "Melancolica I" von  1514, mit der er in verschlüsselter Weise unter  anderem auf das Todesdatum seiner Mutter aufmerksam macht.

In der kabbalistischen Tradition verweist die mathematisch zu errechnende Figur des magischen Quadrates jedoch nicht allein auf deterministische Schicksalsergebenheit, sondern wird im Gegenteil zur Metapher einer releigionsphilosophischen Überzeugung, die auf das Bedeutsame und damit Sinnhafte jedes noch so zufällig oder verworrenen biographischen Details eines Menschenlebens vertraut, und der zufolge allen äußeren Anschein zum Trotz das unverständliche Schicksalslabyrinth einer "höheren" Ordnung entspricht.

Andreas Schnelle legt seine "magischen" Bilder zunächst in der natürlichen Abfolge der aufsteigenden Zahlenreihe an, bei Eins beginnend und von links nach rechts zu lesen, so daß sich ein ungestörtes Bildganzes ergibt.
In dem er die Einzelteile im nächsten Schritt ein zweites Mal ordnet, nun aber in der überraschenden Reihenfolge, des passenden magischen Quadrates, gerät das Bild zwangsläufig auf der optischen Ebene durcheinander, gehorcht jedoch in Wahrheit einer "höheren" Ordnung, in welcher sich jedes Element genau an seinem richtigen Platz befindet.

Im solcherart konzipierten Diptychon "Bild(hoch)2" wird auch die Frage nach dem Standort sowohl innerhalb wie außerhalb der Bildfelder wieder aktuell: Zeigt sich in der rechten Hälfte, die über die Bildfläche eilende Männerfigur intakt,  während die Landschaft kabbalistisch zerstreut ist, so verkehrt sich auf der linken Hälfte dieselbe Situation in ihr Gegenteil - die geordnete Landschaft birgt die Einzelteile der nun auseinander gerissenen Figur.

So schafft Andreas Schnelle auf bildnerischer Ebene labyrinthische Strukturen, die zugleich als paradoxe Systeme fungieren, deren in Form von Endlos-Schleifen angelegte Denkfiguren den Betrachter in schwindelnde Tiefe zu ziehen vermögen.